wenn wie jetzt in der ausstellung
GESICHTER DER RENAISSANCE das
individuum gefeiert wird, haben wir hier auch einen anschaulichen beleg dafür, daß der gesicht habende individuelle mensch der BÜRGER ist, der in seiner avisierten mündigkeit den einzelnen, unverwechselbaren menschen darstellt, dessen porträt eben nicht nur sein äußeres naturgetreu darstellt, sondern ihn in diesem einen – charakteristischen – augenblick festhält (was sich im bild nicht im zeitlichen realisiert, sondern im szenischen. und das szenische aber ist eine raumzeitliche kategorie.)
schon ein gewendeter blick etwa, entgegen der körperachse, weist in ein außerhalb des bildes (vom betrachter weg sozusagen). das assoziiert den porträtierten (jedenfalls der guten möglichkeit nach) mit der idee vom individuum als einem autonomen wesen, mit dem begriff der freiheit also.
das individuum der renaissance ist der wehrhafte bürger, verhandlungsfähig, gesellschaftsfähig, am öffentlichen leben teilhabend. vor allem ist es auch eingeweiht in das spannungsfeld darstellung-wirklichkeit, das der renaissance-mensch zu einem operablen feld macht. die (selbst-)darstellung, der sinn für repräsentativität, alles das, was wir heute unter public relations verstehen, ist bestandteil moderner bürgerlichkeit.
wer heute etwa den erfolg der GRÜNEN verstehen will, sollte das vielleicht unter derartigen gesichtspunkten moderner individualität mitbetrachten.
etwa das vielgescholtene nachmittagsfernsehen der privaten sender, die das sich langsam abzeichnende loser-drittel unserer wettbewerbsfetischierten gesellschaft markieren, kann auch als eine einübung in (SELBST-)BEARBEITUNG (wobei hier die SUPERNANNY wohl die vergleichsweise reellste und anspruchsvollste, also bürgerlichste variante darstellt), angesehen werden und deutet an, was mit der globalisierung am horizont aufscheint, nämlich auch so etwas wie das ENDE des BÜRGERLICHEN selbst.
eine klasse, die ihr NIVEAU, also die abgrenzung gegenüber der "niveaulosen" klasse, sagen wir mal: dem prekariat, verteidigt, ahnt schon, daß es ihr womöglich bald einmal an den kragen gehen könnte. niveau wird bekämpft, indem es offensiv unterschritten wird. niveau ist in erster linie so etwas wie eine visitenkarte (und also obsolet). understatement als beispiel von niveau läßt sich dekodieren als eine sozusagen gehobene und gesteigerte form von (bürgerlicher) angabe.
der inbegriff des modernen bürgers ist derjenige, welcher es sich leisten kann, das feld seiner vorurteile in kritische betrachtung zu nehmen, der selbst in der kritik an seiner person anderen meilenweit voraus ist, aber der ständigen gefahr autoaggressiver phänomene (neurologischer und immunologischer und psychosozialer art) ausgesetzt; wir könnten vereinfacht sagen, der wähler der GRÜNEN, mit dem die idee des BÜRGERLICHEN noch einmal, vielleicht ein letztes mal, sich aufbäumt (wutbürger), an ihren höhepunkt gelangt, bevor sie im worldwideweb endgültig von den migrantenhintergründen verschluckt werden wird. nur mit dem unterschied, daß diese migranten nicht mehr wandern, sondern überall schon da sind, wenn nämlich der unterschied zwischen virtualität und materieller präsenz langsam, aber sicher immer irrelevanter werden wird. da sind die hypersensiblen neurobürger mit ihren überempfindlichkeiten in ihrem schutzbedürfnis nicht mehr zu befrieden, die werden auf dem hintergrund ihrer privilegien und dem (auotaggressiv gefärbten) unterschwelligen stolz auf ihr schlechtes gewissen, das sie mit allen unterdrückten dieser welt mitfühlen läßt, von ihrem, sagen wir es einmal provokant vereinfacht, von ihrem gesundheitswahn zerfressen.
natürlich ist es auch ein vergnügen, seiner spekulativen phantasie derart freien lauf zu lassen und die mitbürger, die einem doch auch hin und wieder gehörig auf die nerven gehen können, ein wenig zu schrecken