dhonau: mit heruntergezogenen socken


Sonntag, 29. Oktober 2017


das fette individuum und die mediale magersucht (u. das verloren gegangene maß)


die um 1500 herum entstandene zeichnung von leonardo da vinci, als die hochrenaissance schon ins manieristische umzuschlagen begann, wo sich die individuelle kunst ("in der manier von ...") loslöste vom bloßen dienst an einem thema, sondern gleichsam mit dem thema vom thema sich entfernte, setzte das "kontermotiv" zur hybris des renaissancemenschen, des universalen, alles könnenden menschen, als deren paradebeispiel leonardo selber gilt: dies kontertthema, das kontrastmotiv, ist das rechte maß, das in dieser zeichnung zunächst nur auf die proportionen des menschen bezogen scheint; aber der sinn für das rechte maß zeichnet den durch alle hybris, anmaßung und selbstüberhebung gegangenen reifen menschen aus. zugleich zeigt sich in diesem wohl organisierten, wohl proportionierten ein weltmodell im kleinen, sodass die hybris des menschen in dieser "maßvollen veranstaltung" wieder hindurchscheint: der mensch als das "maß aller dinge" (vgl. protagoras)

Da Vinci Vitruve Luc Viatour

ein mensch wird insbesondere auch durch das vermögen zum individuum, peinlich sein zu können.

das ist die währung unserer zeit: AUFMERKSAMKEIT —

und peinlichkeit ist ein spezialfall von aufmerksamkeit, die der einzelne mensch auf sich ziehen kann.

da sagen die einen oder anderen: das sagt der richtige.

der korrespondierende begriff zu PEINLICHKEIT ist FREMDSCHÄMEN — eine errungenschaft unserer zeit, ein relativ junges wort, das eindeutig der tv-kultur zuzuordnen ist, die sich dadurch auszeichnet, dass der sogenannte NORMALO ins mediale zentrum der allgemeinen aufmerksamkeit rückt und selber zum tv-darsteller wird. "wetten dass" ist ein frühes beispiel dafür; insbesondere auch durch den moderator, der mit der dauerbotschaft: "ich bin zwar ein uhu, ein bunter vogel, aber doch einer von euch" die aufgeschreckte bevölkerung beruhigt hat, als die darstellungssucht immer verrückter zu werden begann. die sendung oder, wie es so schön heißt, das FORMAT kam am ende mit den ausgelatschten wetten so bieder rüber, dass die damit einst einhergehenden verrücktheiten (irrsinnige, unentdeckte hobbies aus unserer "nachbarschaft") keinen mehr hinterm ofen hervorlocken konnte, warum? weil diese hobbies keine ausgefallenen hobbies mehr waren, die die verrücktheiten in der normalo-bevölkerung dokumentierte, sondern diese wetten immer mehr eigens erfunden worden waren, um irgendwie in die sendung zu kommen. das machte das ganze schließlich immer unerträglicher.
gottschalks interviews mit irgendwelchen stars, die ihre massenproduktionen zu promoten hatten, waren legendär oberflächlich, und die getragen waren von dem außergewöhnlichen talent des moderators, mit einem strahlenden nichts die ganze welt zu umarmen.

heute herrscht botox und tattoo; die verrücktheit (eine uniforme diversifizierung, alle sehen unterschiedlich und irgendwie gleich aus) ist normalzustand geworden.

man kocht sich ins fernsehen hinein, und kotzt sich ("dschungelcamp") wieder heraus.

ein star ist immer mehr einer, aus dem beinahe ein mensch hätte werden können, wenn nicht die fress- und kotzsucht das konsumleben auf den gipfel getrieben hätte.

das sind die krankheiten unserer zeit: fett- und magersucht (in wahrheit geschwister), beschleunigung durch (party- und business-)drogen und entschleunigung durch devitalisierung (depression und burn-out)
wer wissen will, woher der begriff des INDIVIDUUM kommt und wohin er geht, auch wenn er, wie mancher scherzbold einwenden mag, gar nicht gehen kann, der soll sich mit uns in diesen bemerkungen verlieren, die uns nonchalant und unversehens ins zentrum führen einer von sich selbst gelangweilten schöpferkraft, die alle dinge ein zweites mal auf die welt pustet, als ob das alles in kunst dahinzusterben und zu enden habe.
das INDIVIDUUM kommt und geht, wenn es von sich erschöpft ist, aus dem grübeln nicht heraus.

es revitalisiert, indem es sich überträgt, zum ausdruck bringt, sodass alsbald beispielsweise auch der gassi-hund von der krankheit seines herrn beschwert nur noch dahinschleicht ...

und das bellen seinen frisch domestizierten artgenossen überlässt.
fast immer wenn auf die renaissance, insonderheit die italienische (il rinascimento) die rede kommt, landen wir bei dem modernen begriff des INDIVIDUUM, das ist der konkrete, der unverwechselbar eine, der gemeinte menschen, der nicht mehr bloß begriffen wird in seiner allgemeinen schicksals- unterworfenheit als notorisch kleiner als GOTT — und was es an bezeichnungen für allmacht sonst noch gibt, die in allen möglichen religiösen und nicht religiösen repräsentanzen in erscheinung tritt. ("gottähnlich" oder "nach dem bilde gottes" — das sind formeln menschlicher hybris, so schrecklich, aber ohne hybris oder selbstüberhebung gibt es den menschen nicht)

mit der renaissance beginnt, heißt es, die moderne. und der protagonist der moderne, formuliert dhonau, ist das individuum. wenn wir von einer industrie, die alle vorstellungen übersteigt, ins visier genommen werden, der informations- und werbewirtschaft, die immer mehr ein und dasselbe sind, dann unter dem einen alles andere überragenden aspekt, nämlich dem versprechen des einzigartigen, einen und unverwechselbaren EINZELNEN, dem INDIVIDUUM: DAS INTERNET ist der EINE GLOBALE MARKTPLATZ, in dem werbung immer individualisierter auftritt. und das paradoxerweise massenhaft. diese werbung sagt, du bist der eine, der gemeint ist. mehr oder weniger alle wissen, dass nicht menschen mit uns sprechen, sondern algorithmen und programme unsere marktauftritte und marktverhalten berechnen und uns mit direkten oder kaschierten kauf- vorschlägen bombardieren. aber die strategien sind dennoch äußerst wirksam, wenn wir nur die milliarden päckchen in bvetracht ziehen, die uns die logistikunternehmen jeden tag weltweit ins haus schleppen. auch wenn dieses wort INDIVIDUUM so banal und fast nichtssagend daherkommt, ist es doch das schlüsselwort unserer zeit. warum? neben den schon angeführten bemerkungen über die geburtstunde dieses begriffs, gilt es natürlich, den begriff in seinen zeitgenössischen ausprägungen unter die lupe zu nehmen.






der kleine mensch david (1501-1504) ist eine monumentale,
ca. 4m hohe skulptur von michelangelo; diese skulptur
mag selbst als ein beispiel menschlicher hybris angesehen werden

das individuum der renaissance findet seinen ursprung auch unter ästhetischen gesichtspunkten in dieser zeit: mit der erfindung der zentralperspektive zum beispiel in der malerei klingt implizit auch das thema INDIVIDUUM an, denn was heißt zentralperspektive anderes, als etwas aus einer individuellen warte zu sehen. im weiteren beginnen künstler, die sich als solche noch gar nicht verstanden, in dieser zeit ihre werke zu signieren: der autor als urheber oder schöpfer betritt als INDIVIDUUM (und darin haben wir auch das, was wir heute unter künstler verstehen) die szenerie, ein produkt aus "sehen und gesehen werden", ein diktum, das noch heute für gesellschaft steht, deren dynamisierung unter dem aspekt frei fluktuierender AUFMERKSAMKEIT verstehbar wird
autorität von lat. auctoritas bedeutet

ansehen, einfluss, gewicht, machtautorität etc .



auctor bedeutet

urheber, veranlasser, anstifter — autor, [evtl. schöpfer]

und

augere [augeo/auxi/auctum] ist die wurzel, das herkunftswort sozusagen und bedeutet wachsen, vergrößern

eine der vergiftesten begriffe im deutschland nach dem 2.weltkrieg ("nazideutschland"; "holocaust") war evidentermaßen AUTORITÄT. auch vor diesem hintergrund ist die entstehung einer weltweit anhebenden jugendkultur, der POPKULTUR, anzusehen als ein erstes modern globales phänomen wie sie sich in den 60er jahren in allen westlichen oder westlich geprägten ländern übergreifend von "erwachsener" kultur abgrenzend behauptete.
diese abgrenzung war u. a. motiviert von neuralgischen themen wie "hiroshima", der atomaren aufrüstung der alliierten, von dem ersten kolonialen vernichtungskrieg, der ein ganzes land mehr oder weniger auszurotten bereit war, nämlich dem vietnamkrieg, der auch ein stellvertreterkrieg war zwischen dem kommunistischen russland (sowjetunion) und den kapitalistischen usa.
im spezialfall deutschland war die abgrenzung der jugendkultur zudem noch auf die im nachkriegsdeutschland naturgemäß sehr hohe präsenz ehemaliger nazifiguren bezogen, die in den sogenannt bürgerlichen parteien, insbesondere der CDU (s. FILBINGER), "heimat" gefunden hatten, ohne jedenfalls im allgemeinen von ihrer alten nazi-ideologie völlig befreit gewesen zu sein (man sprach u. a. von einer verstummten vätergeneration).

das war die spezifisch deutsch geprägte variante der aufkommenden jugendkulturellen popkultur und studentenbewegung wie sie mit sogenannten 68ern sprichwörtlich geworden ist.
eine zentrale figur dieser jugendkultur war der HIPPIE, der in der parole MAKE LOVE NOT WAR und seiner provokant "weibischen" erscheinung (lange haare, schmuck tragend, bunte weite klamotten) als ANTISOLDAT und ANTIAUTORITÄR gestimmt die etablierten gesellschaften provozierte. die bewegung kennzeichnete implizit die katastrophen des 20. jahrhunderts als ein desaster männlich bestimmter geschichte. nicht umsonst geriet das MANNSBILD in eine fundamentale krise, wie es unter dem stichwort PATRIARCHAT heute noch überall und anhaltend in der diskussion steht
dhonau ist durch zwei biografisch geprägte momente an das thema gekoppelt. einmal war er mitglied in einem freien jugendclub (gegr. 1970), der diskussionen, freizeit- und informationsveranstaltungen zu den themen der zeit organisierte. in diesem zusammenhang war die damals virulente sogenannte ANTIAUTORITÄRE ERZIEHUNG, wie sie der lehrer und leiter des sehr berühmten internats SUMMERHILL, dem damals ebenfalls sehr berühmten A. S. NEILL propagiert wurde, gegenstand einer gesellschaftlichen debatte im allgemeinen und insbesondere in unserem club. (für junge leute um die 20)
der andere aspekt war um 1973/74 die lektüre der studie STUDIEN ZUM AUTORITÄREN CHARAKTER von THEODOR W. ADORNO, eine studie innerhalb des institut für sozialforschung "Für das am 14. November 1951 im neuen Gebäude wiedereröffnete Institut für Sozialforschung war Adorno von Anfang an als stellvertretender Direktor mitverantwortlich."
XY ist eine autorität auf irgendeinem gebiet; jemand wird autorität attestiert (ausstrahlung); amtsautorität (macht); autorität durch gestaltungswillen; selbstsicheres auftreten (autorität (?)in eigenen angelegenheiten; selbstermächtigung); autorität durch reputation und allgemeines ansehen, soziale präsenz (gefragte persönlichkeit, vernetzung, "sozialer aktionsradius"); autorität aufgrund der fähigkeit, einfluss auszuüben (manipulative persönlichkeit); ...


dhonau, 19:18h
=zeit war`s

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